Das Archiv der Gespräche

 

Erkenntnis Nr. 1: Lass' Dich nie mit zwei Kerlen gleichzeitig ein

Ich bin gerade dabei, mitten in der Gluthitze des Sommers in meinem Büro (Ihr wisst schon: das Büro mit innovativer, natürlicher Klimaregelung - im Sommer heiß, im Winter a...kalt) Bücher für den Versand zu verpacken, als sich Freund Miroslav bei mir meldet.

Miro: „Hantierst Du da etwa mit Klebeband? Du wirst mir doch nicht untreu werden und Dir einen neuen besten Freund basteln?“

Bevor ich erläutern kann, dass es sich um Paketband handelt und dass dieses sich für solche Bastelaktionen wenig eignet, mischt sich eine weitere Stimme ein.

Hubald: Halt ja den Rand, Du Klebeband-Emporkömmling, ICH war, bin und werde immer ihr bester Freund sein.“

Das hat mir noch gefehlt: Hubald, der mir seit Wochen die Ohren voll jammert, weil ich ihn schon so lange nicht mehr gezeichnet habe.

Hubald: „Schließlich trägt diese Webseite MEINEN Namen. Also bin ICH hier auch die Hauptperson.“

Miro: Sieh' es doch ein Hörner-Bube: Deine besten Tage sind vorüber. Ich bin jetzt hier der Star und die Umbenennung der Webseite ist bestimmt auch schon geplant.“

Hubald: „Ach ja? Was soll denn nach Deinen Kinderfotos und Deinem kindischen Tagebuch noch Großartiges kommen? Wenn hier Einer den Zenit des Ruhms überschritten hat, dann doch Du. Ich als Comicfigur bin vielseitiger und kann in 100.000 neuen Bildern erscheinen.“

Miro: Wenn sie Dich denn mal wieder zeichnen würde. Ich sehe nur, dass sie Bilder mit psychedelischem Geschmiere malt.“

Plötzliches Schweigen ... aber kein Schweigen der Ruhe und Entspannung. Mein Bauchgefühl setzt alle Alarmzeichen auf ROT!!!

Miro: Weißt Du, Hubald, wir sollten uns nicht streiten, sondern unsere Kräfte bündeln. Wir sind beide Opfer dieses nachlässigen Mädels.“

Hubald: „Hm, jaaaaa, stimmt! Wir geben ihr mit unserer Streiterei doch nur Raum für ihr unsägliches Treiben. Was schwebt Dir vor?“

Miro: Psychoterror!!! Wir arbeiten in Schichten und beschallen sie Tag und Nacht, bis sie zu Vertragsverhandlungen bereit ist, die uns einen angemessenen Teil von Ruhm und Ehre sichern.“

Hubald: „Spitzenidee!! Ich bin dabei: lass' uns gleich mal einen Plan erstellen.“

Und sie setzten ihren teuflischen Plan sofort in die Tat um. Schlaf und Entspannung sind Fremdworte für mich geworden.

Jetzt bin ich nicht nur depressiv, nein, ich höre zusätzlich auch noch Stimmen. Es ist schon schlimm, wenn mich die Jungs zutexten, richtig schlimm wird es aber, wenn sie singen: Hubald singt meistens “Time to draw a Hubald“ (zur Melodie von “Time to say good-bye“). Miro singt etwas, dass er “klebebändische Volksweise“ nennt - eine Mischung aus Elementen der Death-Black-Gothic-Metal-CDs meines Ehegatten und Roland Kaiser. Echt gruselig!!!

 

 


Erkenntnis Nr. 2: Klebebandfiguren sind nicht so treu wie sie aussehen

In die Beschaulichkeit meines Arbeitstags mischt sich mal wieder Miroslav ungefragt mit kritischen Anmerkungen ein:

Miro: Verpackst Du immer noch Bücher? Entweder bist Du die lahmste Mitarbeiterin in Eurem Laden oder Du hast doch eine schwere Klebeband-Abhängigkeit.

Anne: Also, erstens sind das ganz schön viele Bücher und zweitens mache ich das nicht den ganzen Tag – ich habe auch noch andere Aufgaben.

Miro: Haben diese anderen Aufgaben etwas mit Reinigungsmitteln und -geräten zu tun?

Ich bedenke meinen guten Freund Miroslav mit einem bohrenden Blick und beschließe, mich nicht weiter auf dieses Gesprächsthema einzulassen.

Anne: Wo ist eigentlich Dein „Terrorkumpel“ Hubald heute?

Miro: Der musste zur Schule seines missratenen Sohnes: Junior hat wohl wieder irgendetwas in die Luft gesprengt. Dem armen Kerl hast Du ja eine richtig schlimme Familie angedichtet – richtig finster!

Anne: Nach Eurer kleinen Beschallungsaktion hätte ich große Lust, noch einmal ein bisschen nachzulegen.

Miro: Wow – hast Du einen fiesen Charakter! Jetzt bin ich doch froh, dass Du die Klinik verlassen hast, bevor Du mir so ein Möazedes-Weib basteln konntest.

Anne: Nach den Erfahrungen mit Dir, mein lieber Miro, hätte ich keine weitere Figur gebastelt, selbst wenn ich noch 100 Jahre in der Klinik hätte bleiben müssen. Außerdem hast Du schon Luza zur Freundin.

Miro: Hmmmmhmmm ….

Anne: Irgendetwas an Deinem „Hmmmmhmmm“ kommt mir sehr verdächtig vor.

Miro: Na ja, morgen habe ich eine Verabredung mit Würmi.

Anne: Mit Würmi? Eine Verabredung? Wie darf ich mir das jetzt vorstellen?

Miro: Je weniger Du weißt, um so besser. Würmi ist jedenfalls eine total coole Braut!

Anne: Korrektur: eine coole Ehefrau … von … Grotti.

Miro: Pffft – der Loser!

Anne: Ich glaube, ich verpacke lieber noch ein paar Bücher. Und: diese Unterhaltung hat nie stattgefunden!

Miro: Ok, gute Idee!

 

 


Erkenntnis Nr. 3: Klebebandfiguren forschen forsch und aggressiv

Anmerkung:

Die Idee zum Gespräch der Woche mit Miro stammt von einer meiner zahlreichen U-Bahnfahrten. Dort verkündete ein junger Mann unüberhörbar seine neue Weltformel „monogam=monoton“. Er selbst hielt sich für den ultimativen Mädels-Magnet. Da musste ich trotz meiner starken Müdigkeit einen Blick riskieren. Aussehen und Geruch ließen vermuten, dass er im Müll lebte, im Müll badete und sich auch von Müll ernährte. Wenn Mädels-Magnete heutzutage so aussehen und riechen, dann bin ich über mein fortgeschrittenes Alter doch sehr froh.

 

Ich richte zu Hause gerade meinen neuen kreativen Arbeitsplatz ein. Ein Tisch nur dem Malen und Zeichnen gewidmet. Freund Miroslav meldet sich mit einer wichtigen Frage.

Miro: Was bedeutet eigentlich „monogam“?

Anne: Monogam bedeutet, dass man lebenslang nur einen festen Partner hat.

Miro: Ah ja, also ist monogam das Synonym von monoton.

Ich will schon zustimmend nickend (wahrscheinlich ein Impuls, um diese Unterhaltung schnell zu beenden), als sich mein Gewissen meldet und mir signalisiert, dass ich das richtig stellen muss.

Anne: Nein, monogam und monoton sind nicht identisch.

Miro: Ist das mit dem „monogam“ bei allen Menschen so?

Anne: Nein, es gibt auch Länder / Gesellschaften mit Polygamie. Und auch bei uns hier sind nicht alle überzeugte Anhänger der Monogamie. Wie ist das denn so bei Klebebandfiguren?

Miro: Also, bei uns ist das bisher gar nicht geregelt. Deshalb wurde ich als Experte für Menschenangelegenheiten beauftragt, meine Beobachtungen in einem Bericht zusammenzustellen. Nun, Du scheinst mir ja eindeutig monoton zu leben …

Anne: MONOGAM!!!

Miro: Warum eigentlich? Kannst Du keine anderen Männchen anlocken? Ein bunteres Gefieder könnte hilfreich sein. Oder mach' mal was mit Deinen Haaren.

Anne: Miro, auch wenn es für Dich unverständlich bleibt: ich möchte gar keine „anderen Männchen“ anlocken, wie Du es ausdrückst. Und solltest Du als Forscher nicht eine neutrale, beobachtende Position einnehmen und keine merkwürdigen Ratschläge erteilen?

Miro: Neutral ist langweilig. Also, ich finde das mit dem „monogam“ doof. Und wenn ich mir Euch Menschen so ansehen, dann führt dieses „monogam“ doch zu ganz vielen Lügen und Tricksereien. Ich notiere mal, dass monogam nur etwas für so monotone Leute wie Dich ist.

Anne: Klingt wie ein Schlusswort. Darf ich mich jetzt wieder meinen Zeichnungen widmen?

Miro: Ja, ja, mach' mal. Ich werde meine Forschungen mithilfe der ewigen Quelle des Wissen fortführen.

Anne: Die ewige Quelle des Wissens?

Miro: Na, Du weißt schon – das Fernsehen: 24 Stunden am Tag verfügbar im Gegensatz zu Dir. Du bist ja gerade einmal 8 Stunden täglich verfügbar. Den Rest der Zeit pennst Du oder bist geistig weggetreten.

Anne: Nur 8 Stunden? Bist Du da sicher?

Miro: Ja, ich habe Deinen Einwand antizipiert und eine kleine Powerpoint-Präsentation vorbereitet.

Und schon startet die Präsentation. Ich kann gerade noch denken „oh nein, Powerpoint und schon gehen bei mir die Lichter aus. Ein schrilles Telefonklingeln reißt mich aus einem Albtraum, in dem fiese Powerpoint-Folien mich über eine Ebene von Excel-Arbeitsblättern jagen. An meiner Stirn klebt ein Zettel mit der Mitteilung. „Jetzt ist Dein Empfangswert auf 7,9 Stunden täglich gesunken. Rede mal mit Deinem Doc darüber! Dein Miro“

 

 


Erkenntnis Nr. 4: Ich habe ein Monster erschaffen!

Ich sitze an meinem Kreativarbeitsplatz und überlege, wie ich die Interviews mit meinen Comic-Figuren am besten organisiere. Mir ist bewusst geworden, dass dieser Job angesichts des teilweise explosiven Charakters meiner Figuren nicht ungefährlich ist. Ein professioneller Reporter muss her. Wer könnte das sein? In diese Überlegungen platzt Miro mit einer kritischen Bemerkung.

Miro: “Du bist doch schlauer als ich dachte. Du hast zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen Deine Comic-Figuren befriedet und eben mal schnell den Laufsport als Hobby aus dem Internet eliminiert. Nutzt aber nichts, denn ich habe eine Kopie der ursprünglichen Seite gesichert.“

Grummeln als Antwort meinerseits.

Miro: “Wann bist Du eigentlich zuletzt gelaufen?“

Noch mehr unverständliches Grummeln von meiner Seite. Aber es nutzt nichts: Miro hat umfassende Notizen und legt unbarmherzig nach.

Miro: “Wie war das noch einmal mit dem Laufen als Mittel gegen Depression? War das nicht eine Deiner Lieblingstheorien?“

Anne: Ja, ich weiß ...“ (großer Seufzer)

Miro: “Und wenn ich mir die Reste der Streuselschnecke ansehe, die Du so sorgsam vor mir verbergen willst, dann ist das mit der gesunden Ernährung auch Geschichte.“

Anne: “Eine Streuselschnecke kann doch nicht schaden...“

Miro: Stimmt, aber du erfüllst alle Top 3-Anzeichen des übermäßigen Streuselschneckenkonsums:

Platz 3: Du kennst den Preis auswendig.
Platz 2: Du hast das Geld schon in deinem Büro passend zur Hand, damit Du schneller an Deine “Droge“ kommst.
Und der ultimative Beleg auf Platz 1:
Du hast den Laden noch gar nicht ganz betreten, da steht die Verkäuferin schon mit Tüte und Zange parat und fragt freundlich lächelnd 'wie viele Streuselschnecken dürfen es denn heute sein?'

Kommt Dir irgendetwas davon bekannt vor?“

Anne: “Ja, gut, vielleicht habe ich mich da in letzter Zeit ein wenig gehen lassen.“

Insgeheim denke ich, dass “ein wenig“ es nicht ganz trifft: Schokolade darf ich wegen meines Medikaments nicht essen, aber wer hätte gedacht, dass es so viele extrem zuckerhaltige Alternativen zur Schokolade gibt.

Miro: Es läuft wohl doch nicht so gut mit Deinem Fritten-Gedöns.“

Anne: “... mit der WIEDEREINGLIEDERUNG. Ich muss zugeben, dass es doch schwieriger ist, als ich dachte. Aber das ist nur so eine Phase, das wird wieder besser. Jedenfalls ziehe ich das jetzt durch und bringe es zu Ende.“

Ich spreche mit einer Entschiedenheit, die ich in keinster Weise spüre. Aber was soll ich auch sonst tun. Ich sehe einfach keine Alternative und will nicht schon wieder scheitern.

Miro: So, so, eine schwierige Phase. Wie lange wird die wohl andauern? Bis Du wieder hier in der Klinik aufschlägst? Wäre es nicht besser, doch mal Farbe zu bekennen und einen Gang zurückzuschalten?“

Anne: “Ich weiß schon, was ich zu tun habe.“

In Wirklichkeit bin ich total ratlos und weiß nur, dass ich schon wieder zu viel Energie für den Beruf vergeude. Und das noch nicht einmal für die Arbeit selbst, denn meine Leistungen sind eher bescheiden. Nein, ich ärgere mich über “Rahmenbedingungen“, die ich ohnehin nicht ändern kann. Richtig blöd, ich weiß, aber abstellen kann ich es nicht.

Miro: Ja, da bin ich mal gespannt, was Deine Therapeutin bei Deinem nächsten Termin sagt.“

Anne: “Belauschst Du etwa meine streng vertraulichen Therapeuten-Gespräche?“

Miro: “Ich belausche ALLES und JEDEN!! Muhawhawhaw!!!“

Jetzt ist es amtlich: ich habe ein Monster erschaffen.

Und während Miro daran arbeitet, sein böses Lachen zu perfektionieren, werde ich von einer weiteren Komaschlaf-Attacke gnadenvoll aus dieser für mich äußerst unerfreulichen Situation befreit.

 

 


Erkenntnis Nr. 5: Klebebandfiguren sind hartnäckig

Miroslav scheint unser letztes Gespräch nicht aus dem Sinn zu gehen. Er nimmt jedenfalls Kontakt mit mir auf, um nachhaltig nachzuhaken.

Miro: “Warum willst Du eigentlich auf Biegen und Brechen Deine Wiedereingliederung so schnell abschließen?“

Anne: “Damit ich endlich wieder ein eigenes Arbeitsgebiet bekomme. Jetzt sitze ich irgendwie in einer Warteschleife.“

Miro: “Dir ist aber schon klar, dass Du auf längere Sicht weder Vollzeit durchhalten noch ernsthaft komplexe Sachverhalte bearbeiten kannst.“

Miro hat leider recht: ich habe große Schwierigkeiten; insbesondere mit komplexen Sachverhalten. Auch ich habe große Zweifel, ob ich der Vielfalt der Anforderungen eines eigenen Arbeitsgebiet gewachsen bin. Vielleicht ja, aber vielleicht auch nein.

Miro: “Ich werte Dein Schweigen mal als 'halbe Zustimmung'. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass Du nach einer kurzen Hochphase wieder monatelang völlig ausfällst. Ein echter Bärendienst für Dich, Deine Kollegen und Deinen Arbeitgeber.“

Anne: “Ja, aber vielleicht geht es auch gut. Ich kann doch nicht ewig im Hamburger Modell bleiben. Das geht doch nicht!“

Miro: “Und das geht nicht, weil?“

Anne: “Was sollen denn die Kollegen von mir denken?“

Miro: “Was könnten sie denn denken?“

Anne: “Dass ich eine Versagerin bin. Dass ich nichts mehr auf die Reihe bekomme, nur noch scheitere ...“

Miro: “Was soll denn dieses Gelaber vom Scheitern? Du bist krank!“

Anne: “Andere sind doch aber schon lange wieder gesund. Und ich habe doch alles gemacht, um wieder gesund zu werden. Es muss doch jetzt endlich mal wieder gut werden!“

Miro: “Logisch! Und mit genug Willenskraft kannst Du bestimmt auch bald fliegen wie ein Vogel. Merkst Du eigentlich nicht, dass Du schon wieder die alten Strategien, die ja nun erwiesenermaßen nicht erfolgreich waren, anwendest? Hast mal wieder zu viel auf Deinen 'inneren Feldwebel' gehört, gelle?“

Dieser Miro lag schon wieder richtig! In der Tat hatte sich der 'Feldwebel' wieder sehr oft zu Wort gemeldet. Und ich war ihm natürlich lammfromm gefolgt. Ich kramte in meiner Erinnerung, suchte nach einem Beispiel, bei dem ich mal gegen meinen 'inneren Feldwebel' durchgesetzt hatte.

Anne: “Stimmt ja gar nicht. Gerade letzte Woche ließ ich eine ganze Reihe von Mails unbearbeitet, um keine Überstunden zu machen!“ Ich beendete meine Ausführungen mit einem triumphalen Lächeln und stolz erhobenen Haupt, nur um sofort eins auf den Deckel zu bekommen.

Miro: “Ach ja, diese heldenhafte Großtat der abhängig Beschäftigten! War es nicht eher so, dass Du die Arbeit beendet hast, damit Du nicht zu spät zu Deinem nächsten Termin kommst? Und war es auch nicht so, dass Du Deinem Feldwebel versprochen hast, am Folgetag eine halbe Stunde früher anzufangen, um den 'Rückstand' aufzuholen? Müssen wir eigentlich Deine Mittagspausen noch mal näher ansehen, oder ...?“

Verdammt noch mal, war dieser Kerl gut informiert. Irgendwie gefiel er mir besser, als er noch zu egozentrisch war, um sich jemals ernsthaft mit anderen Wesen zu beschäftigen. Ich musste jetzt unbedingt eine alte 'Miro-Technik' anwenden: Themenwechsel extrem!

Anne: “À apropos 'näher': Du hast mir nie erzählt, wie Dein Date mit Würmi gelaufen ist. Erzähl doch mal ...“

Miro: “Guter Versuch, aber Du weißt ganz genau, wie es gelaufen ist: sie hat mir eine gezimmert! Gut, dass ich weder Gehirn noch Knochen habe, die hätten Schaden nehmen können. Zurück zu Dir! Bitte sieh' endlich ein, dass Du noch krank bist. Sprich' mir jetzt nach: ICH BIN KRANK!“

Grummeln meinerseits …

Miro: “Sprich' mir nach oder ich singe es Tag und Nacht zur Melodie einer klebebändischen Volksweise!“

Ich gab schnell nach ... ein neuer Rekord …

Anne: “ICH BIN KRANK! ICH BEMÜHE MICH UM EINE ÄNDERUNG MEINES EINGLIEDERUNGSPLANS!“

Miro: Dass man immer erst grob werden muss. Die Beaufsichtigung so eines Mädels ist ein richtiger Knochenjob ... ach ja, hab' ja gar keine Knochen …

Anne: “Halleluja.“

Miro: “Gepriesen sei das Klebeband!“

Anne: “Musst Du immer das letzte Wort haben?“

Miro: “Ja!“

 

 


Erkenntnis Nr. 6: Klebebandfiguren können Dich in Schwierigkeiten bringen

Ich sitze im ICE, bin auf Dienstreise mit einer Kollegin. Miroslav erscheint auf dem Platz meiner Kollegin. Ich schaue erschreckt zu ihm: "Miro, das ist der Platz meiner Kollegin. Da kannst du nicht abhängen." Miro antwortet gelassen: “Erstens kannst nur Du nur mich sehen. Zweitens ist deine Kollegin gerade schwer beschäftigt im Speisewagen. Sie führt dort ein sehr angeregtes Gespräch mit einem geölten Krawattenmenschen.“

Anne: "Mit einem was ...?"

Miro: “Frackträger, Power-Point-Pupser, Geschäftsmann oder IT-Consultant. Übrigens solltest du deine Mimik und Gestik unter Kontrolle bringen und keinen Klartext reden. Die Dame gegenüber schaut schon ganz misstrauisch.

Ich hatte in meiner Verwunderung vergessen, nur telepathisch mit Miro zu kommunizieren. Ich schaue zu besagter Dame und versuche mein unschuldigstes Lächeln aufzusetzen, was mir gründlich misslingt. Sie schaut noch misstrauischer. Ich nehme die Zeitung und verberge meine Mimik dahinter.

Miro kommt zur Sache. Er interessiert sich heute für die Organisation der Deutschen Bahn.

Miro: “Wir sind doch in Berlin gestartet. Wie kommt es, dass wir schon dort eine halbe Stunde Verspätung hatten?“

Anne: “Nun, der Zug soll noch nicht betriebsbereit gewesen sein.“

Miro: “Was heißt das “nicht betriebsbereit“? Der Zug fährt doch jeden Tag. Da müssen die doch vorbereitet sein.“

Anne: “Weiß nicht, vielleicht hatte sich der Lokführer verspätet oder ein Stinktier hat versehentlich in einem Waggon übernachtet und sie mussten erst einmal lüften.“

Miro: “Na da hätten sie nochmal gründlicher lüften oder Raumspray verwenden sollen. Hier müffelt es gewaltig.“

Miro: “Noch eine Frage ...“

Ich stöhne laut auf und rufe "Was denn noch?" Die Dame gegenüber springt fast aus ihrem Sitz. Verdammt, schon wieder Klartext!

Miro: “Wie ist das eigentlich hier mit den Klassen: es gibt die erste und die zweite Klasse. Die sehen normal aus, wenn auch teilweise abgeranzt. Da gibt es aber anscheinend noch eine billigere Klasse, die sehr seltsam ist. Es ist unglaublich eng, riecht sehr streng und ist spartanisch möbliert. Die Passagiere machen dort seltsame Dinge, die ich gar nicht laut aussprechen kann.“

Miro lehnt sich zu mir und flüstert mir das  Unsägliche zu. Ich richte mich auf, lasse die Zeitung sinken. Meine lebhafte Mimik wird für die Außenwelt (insbesondere die alte Dame) sichtbar und ich rufe, leider schon wieder in Klartext, entsetzt aus: "Miro, das ist die Toilette und keine Klasse." Die alte Dame gegenüber schaut mich völlig entsetzt an und drückt sich mit dem Rücken so fest in den Sitz, als wolle sie durch diesen hindurch die Flucht antreten. Dann sucht sie das Weite.

Mir schwant schon so Einiges. Ich flüstere meinem lieben Freund zu: “Miro, ich glaube wir sollten diese Unterhaltung an einem privateren Ort fortführen.“

Miro: “Wieso? Jetzt ist die Olle eh schon weg, also kannst du alle Grimassen dieser Welt ziehen und so viel Klartext schreien, wie du willst. Zurück zu Eurer Klassengesellschaft...“

In diesem Augenblick kommt meine Kollegin von ihrem Plausch mit der geölten Krawatte zurück. Sie schaut mich etwas verwundert an, weil es so aussieht, als würde ich mit ihrem Sitzplatz eine Diskussion führen. Ich ziehe mich schnell auf meinen Platz zurück und schaue ganz unschuldig auf den leeren Platz der alten Dame. Meine Kollegin fragt: War hier was Besonderes los? Die Alte hat den Kontrolleur mit ihrem Redeflash total zugetextet.“

Und schon erscheint die Dame mit dem Kontrolleur im Schlepptau, zeigt mit zitterndem Zeigefinger auf mich und ruft schrill: “Da ist diese unmögliche Person, die mich ständig mit ihrem unsinnigen Geschrei erschreckt.“ Jetzt ist es an mir, meinen Rücken fest in den Sitz in einem aussichtslosen Versuch des sofortigen Verschwindens zu drücken. Meine Kollegin genießt das Spektakel: “Man hatte mir schon erzählt, dass Du krass bist, aber dass Du so total voll oberkrass bist, konnte ich mir bisher nicht vorstellen. Voll der Hammer!“

Dem Kontrolleur ist die Sache irgendwie unangenehm, aber die alte Dame lässt nicht locker. Also setzt er ein strenges Gesicht auf und befragt mich eingehend zu den Beschwerden. Ich versichere stotternd, dass es manchmal schon vorkommen könnte, dass ich meine Gedanken laut äußere und dass ich bedauere, meine verehrte Mitreisende dadurch erschreckt zu haben. “Sie hat über Toiletten gesprochen!“ zetert die alte Dame aus dem Hintergrund. Der Kontrolleur sieht mich nochmals ebenso grimmig wie warnend an und geleitet die alte Dame als Ausgleich für die erlittene Belästigung in die erste Klasse.

Miro: “Na, das hat die Olle doch schlau eingefädelt. In der ersten Klasse müffelt es signifikant weniger als in dieser Abteilung der “Bauern- und Arbeiterklasse“. Vorsicht! Nicht schon wieder Klartext reden. Die gelbe Karte hast Du ja schon!“

Schon wieder Miro, der es sich jetzt auf dem Platz der alten Dame gemütlich gemacht hat. Ich fühle ein gewisses Verlangen aufkommen, seinen schmalen Klebebandhals kräftig zu würgen. Die weisen Worte meiner jungen Kollegin lenken mich Gott sei Dank ab “Dienstreisen sind echt voll krass.“ Oh ja, wir alle leben in einer krassen Welt mit krassen Typen und alles ist total voll echt.

 

 


Erkenntnis Nr. 7: Mit einer Klebebandfigur sollte man nicht ins Hotel gehen, auch nicht für 150 DM

Ich sitze in meinem Hotelzimmer und arbeite ein paar Unterlagen durch, um für die Besprechungen am nächsten Tag gerüstet zu sein. Das kann meine "Aufsicht" so nicht hinnehmen:

Miro: Was muss ich denn hier sehen? Machst Du etwa Überstunden? Ist Dir das nicht ausdrücklich verboten worden?

Anne: Ich sehe mir nur noch mal kurz die Unterlagen für morgen an. Was sollte ich hier auch sonst machen. Fernsehen mag ich nicht, würde auch eher den erholsamen Schlaf behindern.

Miro: Stimmt, Fernsehen schadet Dir nur und dieser Krempel sieht hinreichend einschläfernd aus. Deine Kollegin kann mit ihrer Zeit aber etwas Besseres anfangen: sie macht die Nacht zum Tag und ist mit der geölten Krawatte losgezogen. Die versaut sich den Abend nicht mit diesen ollen Unterlagen.

Anne: Braucht sie auch nicht, denn sie hat den ganzen IT-Kram mit der Muttermilch aufgesogen.

Miro: Was denn? So könnt Ihr Menschen auch Wissen erwerben? Ihr trinkt einfach Muttermilch? Warum machst Du das nicht auch?

Anne: Miro, das ist doch nur so eine Redewendung. Das bedeutet, dass sie mit IT-Technik schon in jungen Jahren in Kontakt kam, während ich eben schon etwas älter war und mir deshalb der intuitive Zugang fehlt.

Miro: Ach so! Eure Sprache ist schon echt komisch. Und noch viel komischer finde ich das mit der Klassengesellschaft. Es scheint Euch Menschen ein inneres Bedürfnis zu sein, Klassen zu bilden und damit andere Menschen auszugrenzen.

Anne: Mag sein, aber hier in Deutschland ist das mit den Klassen nicht mehr so von Bedeutung.

Miro: Das sehe ich aber anders. Mir scheint, dass es in Deinem Land immer noch mehr als genug von dieser aberwitzigen Idee der Klassengesellschaft gibt.

Anne: Wie kommst Du denn darauf?

Miro: Na ja, als ich kürzlich eine Recherche zu den Ernährungsgewohnheiten in dieser Welt machte, stolperte ich über den Begriff "Sandwichposition", der gar nichts mit Essen zu tun hatte. Und daraus folgerte ich, dass es immer noch Klassen geben muss.

Anne: Aber Sandwichposition ist doch nur ein Begriff aus der Arbeitswelt und bedeutet, dass Leute, die in dieser Ebene arbeiten, zwischen Arbeitsebene und Chefetage vermitteln.

Miro: Klingt jetzt nicht so attraktiv.

Anne: Ist es auch nicht Es bedeutet Druck von oben und von unten. Ich weiß leider mehr darüber, als mir lieb sein kann.

Miro: Beim Sandwich sind aber oben und unten nur dröge Brotscheiben. Dann bist Du als Belag doch viel besser und wertvoller als die Chefetage, oder?

Anne: Sehe ich grundsätzlich auch so. Es fragt sich dann nur noch, warum die drögen Brotscheiben über mir so unglaublich viel mehr Gehalt bekommen als ich.

Miro: Gehalt bekommen oder verdienen - auch ein feiner Unterschied. Ich frage mich gerade, welche Sorte von Belag du wohl bist: Salami? Schinken? Oder doch Mortadella? Hmmm, definitiv Mortadella.

Anne: Diese Unterhaltung hat mich hungrig gemacht.

Miro: Was denn? Schon so bald nach dem Abendessen?

Ich schweige zu diesem Anwurf und begebe mich auf die Suche nach den Süßigkeiten, äh die Nervennahrung, ohne die ich nie auf Reisen gehe. So sehr ich auch suche, ich kann sie nicht finden.

Miro: Falls Du Deine Süßigkeiten suchst: die sind weg.

Anne: Wie jetzt? Wer? Wohin?

Miro: Ich habe meine neu erworbenen Fähigkeiten des Stufe 2 - Diploms genutzt, um Dein Hirn ein klein wenig zu manipulieren ...

Anne: Und das bedeutet jetzt konkret?

Miro: Du hast sie Deiner Kollegin geschenkt.

Ich unterdrücke die Flüche und Schimpfworte, die in mir aufsteigen.

Anne: Mit wem muss ich reden, damit Dir dieses Diplom wieder aberkannt wird?

Miro: Es ist doch alles nur zu Deinem Besten. Du wirst viel besser schlafen, wenn Du Dir nicht diesen ganzen überflüssigen Zucker reinziehst.

Kein Nachtisch, dafür aber eine große Erschöpfung und Müdigkeit von diesem langen, mit Miroslav-Komplikationen garnierten Arbeitstag. Also ab ins Bett in der Hoffnung auf einen erholsamen Schlaf. Kurz vor dem Einschlafen höre ich noch die Stimme der Kreatur, die immer das letzte Wort haben muss: Schlaf gut, … Mortadella, hihihihi …


 

 

Erkenntnis Nr. 8: Der Nikolaustag mit Klebebandfiguren bringt große Überraschungen

Erholsamen Schlaf gab es leider nicht für mich. Die Fahrt, die ungewohnte Umgebung und die Anspannung vor dem Sitzungsmarathon hatten das verhindert.

Um so wichtiger ist jetzt ein ausgiebiges Frühstück. Kurz vor und während der schlimmsten Phasen meiner depressiven Episoden bestand mein Frühstück maximal aus einer Tasse Kaffee. Diesen Fehler wollte ich nicht wiederholen. Daher bin ich auch schon recht früh im Frühstücksraum. Meine Kollegin hat noch nichts von sich hören oder sehen lassen. Na ja, junge Leute schlafen gerne länger, besonders wenn sie vorher die Nacht zum Tag gemacht haben. Eine andere mir gut bekannte Persönlichkeit ist dagegen schon voll auf der Höhe der Zeit:

Miro: Wow, heute nimmst Du ja mal Brot zu Deiner Marmelade.

Anne: So ein Blödsinn, mache ich zu Hause doch auch.

Miro: Mag sein, aber das Marmelade/Brot-Verhältnis ist hier definitiv anders als zu Hause. Warum nimmst Du nicht mal Käse zum Frühstück. Ist doch viel gesünder. Oder iss doch mal eine Banane.

Anne: Darf ich nicht, verträgt sich nicht mit meinem Medikament.

Miro: Das gibt’s doch gar nicht. Das hast Du gerade erfunden.

Anne: Nein, schau Dir diese Internetseite an.

Ich schiebe mein Smartphone in seine Sichtachse und rufe den entsprechenden Favoriten auf.

Miro: Hm, tatsächlich. Bla-bla-bla rote Bohnen, Soleier (schauder), Salami, Schokolade, Nougat, Marzipan, Banane, Birne, Avocado, Leber ... ein irrer Mix. Und wenn du mal einen Fehler machst? Die Folgen klingen echt gruselig.

Anne: Ja, ist ziemlich übertrieben. Meist habe ich nur Magen-Darm-Beschwerden und muss einen verlängerten Aufenthalt in der Porzellanabteilung einlegen.

Miro: Warum nimmst Du das Zeug überhaupt noch. Du bist doch jetzt wieder gesund.

Anne: Damit ich nicht wieder erkranke. Die Gefahr besteht leider immer. Je mehr Episoden Du hinter hast, desto größer die Gefahr.

Miro: Gehst Du deshalb auch immer noch zu Deiner Therapeutin?

Anne: Nein, das mache ich nur, damit du deine niederen Instinkte ausleben kannst, indem du höchst private Gespräche belauschst.

Miro: Du tust das alles für mich. Ich bin so gerührt. Wenn ich weinen könnte, dann würde ich es jetzt tun.

Jetzt bin ich gerührt. Klebebandfiguren haben anscheinend große Schwierigkeiten, Sarkasmus und Zynismus zu erkennen. Hätten sie ein Herz, dann wäre es wohl zu100 Prozent rein. Vielleicht sollte ich die Süßigkeit-Verschwindeaktion vom Vortag nochmals neu bewerten. Miro meint es wirklich nur gut mit mir. Ich sollte auch mal was Nettes sagen - trotz der frühen Stunde.

Anne: Übrigens: ich bin so stolz, dass du das Stufe 2-Diplom erreicht hast. Wie hast du das eigentlich geschafft? Was musstest du dafür tun?

Miro: Ich habe es für meinen Beitrag zu Deiner Gesundung bekommen. Du erinnerst Dich vielleicht daran, dass ich sehr streng mit Dir sein musste. Du musst jetzt nicht rot werden wie eine Tomate. Nimm lieber Tomate und Gurke und ein wenig Vollkornbrot. Du brauchst Energie für den Tag. Es wird bestimmt anstrengend.

Ich will gerade fragen, wie er darauf kommt, da sehe ich meine Kollegin oder das, was das intensive Nachtleben von ihr übrig gelassen hat, auf meinen Tisch zustolpern. Sie setzt zum Sprechen an, kann aber mit lädierter Stimme nur ein unverständliches Dmmmnndtermonemchwannemn hervorbringen. Es sind mehrere Nachfragen nötig, bis ich verstanden habe, dass dieser Buchstabenbandwurm “Du musst den Termin ohne mich wahrnehmen“ bedeuten soll. Toll! Ausgerechnet der Vormittagstermin. Ich hatte mich zwar vorbereitet, aber als Perfektionistin ist mir diese Vorbereitung völlig unzureichend. Unbeeindruckt von meinem Dilemma zieht mein kleiner Zombie von dannen, um etwas Schlaf nachzuholen.

Anne: Oh mein Gott, jetzt muss ich diese Sitzung wahrnehmen. Und natürlich auch den Vermerk für die Geschäftsleitung ganz allein verfassen. Was ist, wenn ich mit meiner Einschätzung völlig daneben liege?

Miro: Jetzt hör' aber mal auf mit Deinen Katastrophenszenarien. Zum einen führst Du keine Friedensverhandlungen, deren Scheitern den dritten Weltkrieg zur Folge hätten. Zum anderen weißt Du doch genau, dass Dein Vermerk durch eine ganze Armada von Vorgesetzten mit Stilübungen so lange von der Geschäftsleitung ferngehalten wird, bis diese sowieso schon wieder einer ganz neuen Vision oder Strategie nachjagt. Also mach' Dich mal locker.

Anne: Ja, aber wenn ich die Fakten nicht richtig verstehe und aufschreibe? Oder die falschen oder dumme Fragen stelle?

Miro: Fakten, welche Fakten? Du gehst da in eine Art Verkaufsverhandlung. Da kannst Du Fragen, was Du willst. Du bekommst sowieso nur Lügen und Halbwahrheiten präsentiert.

Vielleicht sind Klebebandfiguren doch nicht so naiv, wie ich dachte. Irgendwie fühle ich mich schon etwas besser. Trotzdem muss ich mich jetzt beeilen, damit ich nicht zu spät zur Sitzung komme. Den Nikolaustag hatte ich mir gemütlicher gewünscht. Zu Hause hätte ich ein kleines Präsent in meinen Schuhen vorgefunden. Darauf muss ich hier wohl verzichten. Ich seufze kurz und gehe dann zu meinem Hotelzimmer, um meine bequemen, nicht repräsentativen Schuhe gegen die weniger bequemen, aber sehr repräsentativen Schuhe zu tauschen. Im Hotelzimmer angekommen, erlebe ich eine große Überraschung: der Nikolaus war doch da gewesen und hatte in meinen Schuhen … (Trommelwirbel) … Staudensellerie und Möhren hinterlassen. Wie „schön“. Ich starre minutenlang fassungslos auf dieses Arrangement und werde erst durch die Worte meines Lieblingsbetreuers in die Wirklichkeit zurückgeholt:

War gar nicht so leicht, diese Sachen dem Nikolaus-Typen aus dem Kreuz zu leiern. Sein Sortiment ist erschreckend einseitig!“


 

Erkenntnis Nr. 9: Klebebandfiguren hinterfragen Traditionen kritisch

Das Weihnachtsfest verwirrt Miro.

Miro: Was feiert Ihr da eigentlich genau? Ihr sagt, dass Ihr die Geburt von Jesus feiert. Aber wer ist dieser Weihnachtsmann? Der Onkel von Jesus? Und warum bekommt Ihr Geschenke, es ist doch nicht Euer Geburtstag.

Anne: Ja, weiß ich jetzt auch nicht ganz genau. Es ist halt so eine Tradition.

Miro: Und wer ist denn dieses Christkind? Die Tochter vom Weihnachtsmann?

Anne: Nee, verwandt sind die nicht. In meiner Kindheit dachte ich, dass das Christkind Assistent vom Weihnachtsmann sei. Anscheinend ist es aber eher so, dass manche Leute den Begriff Weihnachtsmann und andere den Begriff Christkind benutzen.

Miro: Na, besonders gut informiert scheinst Du nicht gerade zu sein.

Anne: Der ganze Rummel und die Hektik nerven mich.

Miro: Hmm, vielleicht sind das noch Auswirkungen Deiner Erkrankung. Ich hatte den Eindruck, dass alle anderen Leute die Weihnachtszeit und das Weihnachtsfest ganz toll finden. Und es doch ein wichtiges Ereignis in Deiner Religion!

Anne: … an das nur wenige Leute denken, wenn Du Weihnachten sagst.

Miro: Du meinst damit, dass kaum einer weiß, dass mit dem Fest eigentlich die Geburt Jesu gefeiert wird?

Anne: Genau, die Kirchen sind zwar endlich richtig voll, aber trotzdem dreht sich alles nur um Geschenke.

Miro: Aber schau doch nur auf all die Freude, die sich im Lande breit macht: die Kinder freuen sich, die Eltern freuen sich, Katzen und Hunde freuen sich. Nur Du bist mal wieder so miesepetrig. Und wie freudig der Finanzminister und der Handel sind. Dich habe ich allerdings noch nicht beim Einkauf gesehen.

Anne: Ja, ich habe es nicht so sehr mit dem Einkaufen.

Miro: Oder Shopping - wie es so schön auf neudeutsch heißt.

Anne: Hör mir bloß damit auf. Da kriege ich die Krätze. Es heißt Einkaufen und fertig! Und mich siehst Du nicht in Geschäften, weil ich nichts brauche, habe doch schon alles.

Miro: Alles außer ordentlicher Kleidung ...

Anne: Geht das jetzt wieder los! Das ist Deine unwesentliche Einzelmeinung.

Miro: Also unwesentlich schon mal nicht. Und garantiert auch keine Einzelmeinung. Aber was ist jetzt mit Geschenken? Verweigerst Du Dich denn dieser Tradition vollkommen? Lebst Du da etwa Deinen Menschenhass aus?

Anne: Ich hasse Menschen nicht. Vielleicht mich selbst, immer noch ein wenig. Wie auch immer. Jedenfalls bedeutet Weihnachten für mich nicht in erster Linie Geschenke. Mir ist wichtiger, gemütlich zu Hause etwas Besonderes zu kochen, die Ruhe zu genießen.

Miro: Ja, das mit dem Essen sieht man! (richtet seinen Blick betont und übertrieben auf meinen leicht vorgewölbten Bauch). Was hast Du gegen das Schenken? Willst Du den Weihnachtsmann arbeitslos machen. Oder stören Dich als penible Oberbesserwisserin seine zahlreichen Gesetzesverstöße?

Anne: Gesetzesverstöße? Welche Gesetzesverstöße? Jetzt bin ich aber gespannt.

Miro: Illegale Einreise, Gefährdung des Flugverkehrs, Markenpiraterie, Fliegen mit einem nicht zugelassenen Gefährt, Verstoß gegen Zollvorschriften, Missachtung der Arbeitszeitbestimmungen, der Lenk- und Ruhezeiten und der physikalischen Grundsätze … und dann natürlich Tierquälerei!

Anne: Tierquälerei?

Miro: Na, diese armen Rentiere, die ohne ausreichende Pausen, Nahrung und Wasser den Schlitten, das Gepäck und den fetten Kerl ziehen müssen.

Anne: Ach, Miro, das tun sie doch nicht wirklich. Das ist doch wie die Märchen, die man Kindern erzählt. Welches Rentier kann schon fliegen?

Miro: Wie jetzt, Rentiere können gar nicht fliegen? Aber Kinder werden das glauben. Und bei Tests falsche Antworten geben. Dann bekommen sie schlechte Noten und können nicht studieren. Sie sind verurteilt, einen blöden Job anzunehmen - so wie Du! Ihr Leben wird elend sein. Und nur, weil Ihr Ihnen diese Lügen aufgetischt habt.

Anne: Die Jugend von heute hat noch ganz andere Probleme. Die glauben, dass alle Kühe lila sind, ihre Abwehrzellen in einer Abart von Raumanzügen herumhüpfen und dass Drachen wirklich existieren.

Miro: Was waren denn die “Helden“ Deiner Jugend?

Anne: Klementine, definitiv Klementine. Die wusste immer Bescheid, war handwerklich und technisch versiert und dabei total entspannt. Sie trug ein kariertes Hemd und eine weiße Latzhose. Sie war so anders als die anderen Werbetanten, die ihre Finger in Geschirrspülmittel badeten oder mit Dauergrinsen Kaffee kochten und servierten.

Miro: Und an ihrem geschmacklosen Bekleidungsstil hast Du Dich orientiert - bis zum heutigen Tag. Du kritisierst Eure Konsumgesellschaft und die Heldin Deiner Jugend ist eine Werbefigur. Dein Gesamtkonzept ist nicht sehr stimmig.

Anne: Musst Du so auf meinem unterentwickelten Selbstbewusstsein herumtrampeln? Der Weihnachtsmann wäre von Deinem Verhalten nicht sehr entzückt!

Miro: Der soll lieber mal ganz kleine Brötchen backen. Moralisch stehe ich klar über dem Weihnachtsmann. Hast Du Dich mal gefragt, wie er die ganzen Geschenke finanziert? Das riecht doch eindeutig nach Geldwäsche und mafiösen Strukturen.

Anne: Jetzt geht Deine Phantasie aber endgültig mit Dir durch. Du hast doch selbst festgestellt, dass Finanzminister und Handel vom Weihnachtsfest profitieren. Wir kaufen die Geschenke! Der Weihnachtsmann ist nur eine Märchenfigur.

Miro: Waaaas? Ein Skandal! Kinder werden schamlos belogen und mit dieser Märchenfigur unter Druck gesetzt und diszipliniert. Weihnachten ist für mich definitiv gestorben.

Anne: Gut, dann kann ich Dein Geschenk ja behalten …

Miro: Halt, halt, halt: nicht so schnell. Dein Geschenk nehme ich - ist nicht vom Weihnachtsmann und hat nichts mit Weihnachten zu tun.

Anne: Frohe Weihnachten, Miro!

Miro: Ooooooh, eine Gangster-Goldkette! Damit werde ich der Star der nächsten Tonfigurenjungs-Party sein. Oh, ich habe gar nichts für Dich …

Anne: Das macht doch nichts. Erzähl mir doch einfach etwas über Eure Feste und Traditionen. Das wäre das schönste Geschenk für mich.

Miro: Darf ich dann auch ein paar klebebändische Volksweisen vortragen?

Anne: Oh, bitte nicht.

Miro Ach komm schon, nur eine …

Anne: Na gut, eine einzige und bitte eine kurze.

Miro: Oh prima!

Anne: Und könnte ich zu Weihnachten mal das letzte Wort haben?

Miro: Nein, Traditionen muss man pflegen, Mortadella-Schätzchen!

Anne: Na gut!

Miro: Schön, dass Du es einsiehst - guter Versuch übrigens.

Dann gab ich auf. Die Tradition des letzten Wortes würde sich auch dieses Mal durchsetzen.

Miroslav und ich wünschen Euch ein Frohes Fest. Macht Euch locker, schaut mit Güte auf Eure Familie und Eure Mitmenschen und freut Euch darüber, dass Ihr nicht Miros klebebändischen Volksweisen lauschen müsst!


 

Erkenntnis Nr. 10: Hätte ich mal in der Schule besser aufgepasst

Meine Telefonanrufe, Mails und SMS an Hubald und Anhang werden seit Tagen nicht mehr beantwortet. Anscheinend sind nach Miroslav nun auch meine Comicfiguren verschwunden. Kurz überlege ich, es einfach dabei zu belassen, aber dann finde ich das doch zu unverantwortlich. Also begebe ich mich persönlich zur Dr-Maus-Stadt.
Zuerst wirkt alles total ausgestorben, aber dann treffe ich auf Würmi, Grotti und Möazedes.

Anne: Was ist hier denn los? Wo sind Hubald, Junior, Dr-Maus und Pierre? Und was ist mit Miroslav?

Würmi: Alle abgehauen nach Hollawuut.

Anne: Du meinst Hollywood, oder?

Würmi: Nein, bei uns heißt es Hollawuut. Bei Euch Hollywood.

Anne: Wie kamen sie denn auf die Idee und was wollen sie dort?

Würmi: Also, Miroslav hatte anscheinend eine Reihe von Filmaufnahmen in der Klinik gesehen und träumte seither von einer eigenen Schauspielkarriere. Pierre, Hubald und Junior hatten mitgekriegt, dass Du dieses neue Zeichenprogramm hast. Die glauben, dass Du das nie in den Griff bekommen wirst und wagen daher den Neustart in Hollawuut. Dr-Maus sieht da neue Märkte, auf denen er seine Produkte verticken kann.

Anne: Und warum seid Ihr noch hier?

Würmi: Das ist mir alles zu kommerziell und oberflächlich.

Grotti: Wir haben keine gültigen Pässe. Ich habe vergessen, einen neuen Pass zu beantragen und Würmis Pass ist wegen eines laufenden Strafverfahrens eingezogen.

Würmi: Na ja, oder so ...

Anne: Mir war gar nicht klar, dass es in Eurer Welt auch so etwas wie Pässe, Visa und Grenzen gibt.

Würmi: Es gibt hier ja auch Willkürjustiz, fiese Arbeitgeber und Typen wie Möazedes.

Anne: Ach ja, Möazedes, warum ist die denn noch hier?

Möazedes: Näää, also ich geh doch nedd wohie, wo's nur fettigen und ekligen Fraß gibt.

Anne: Äh, was … Fraß … aber Dein … äh … (Anm. der Redaktion: Möazedes ist berühmt-berüchtigt als Produzentin von Fraß – sie nennt es Mittagessen.)

Würmi: Eine verstörende Sicht der Dinge, nicht wahr?

Anne: In der Tat. Aber was machen wir denn jetzt?

Würmi: Wir schon mal gar nichts. Du bist hier die Zeichnerin und Erzählerin. Lass Dir etwas einfallen!

Anne: Ich habe mir das hier nicht einfallen lassen. Die sind ohne mein Einverständnis nach Hollawuut abgehauen. Alles ist außer Kontrolle!

Würmi: Dann bring den Laden gefälligst wieder unter Deine Kontrolle und hör auf zu jammern.

Anne: Ja, aber wie soll ich das machen?

Würmi: Hast wohl in der Comiczeichnerschule nicht aufgepasst. Da wird das doch alles haarklein erklärt.

Anne: Comiczeichnerschule? Da war ich nie ...

Würmi: Es ist doch unfassbar! Für jeden Mist in diesen Welten braucht man einen Prüfungsnachweis oder Berechtigungsschein, aber Comics zeichnen und virtuelle Welten erschaffen: das darf jeder Trottel oder Amateure ohne jegliche Ausbildung oder Prüfung.

Anne: Den Amateur lasse ich gelten, aber den Trottel weise ich zurück.

Würmi: Still, nichtswürdige Schülerin, ich werde Dir jetzt einen Crashkurs in Comiczeichner-Theorie erteilen.

Möazedes: Wer is dann die do? Müsst ich die kenne?

Würmi: Möazedes, geh doch einfach in Deine Küche und lass etwas anbrennen. Wir müssen hier ernsthaft arbeiten.

Und so lernte ich im Schnelldurchgang alles Wissenswertes über virtuelle Welten. Ein sehr komplexes Thema - da werde ich wohl noch öfter Nachhilfestunden nehmen müssen. Aber nicht bei Würmi! Sie weiß sehr viel, kann es auch gut erklären, hat aber null Verständnis für Depressive mit Pseudodemenz. Wenn nur Miroslav wieder hier wäre. Ich wäre sogar bereit, einen klebebändischen Liederabend mit ihm zu ertragen!

Anne: Entschuldigung, Würmi, wie komme ich noch mal in meine eigene Welt zurück?

Würmi: KAPITEL 3: REISEN IN UND ZWISCHEN REALEN UND VIRTUELLEN WELTEN!!! Hast Du denn überhaupt nichts von meinem genialen Vortrag mitgekriegt (@&!!♠∞@@). Also, alles noch einmal von Anfang an. Und wehe, wenn Du dieses Mal nicht aufpasst.

Es versprach ein langer und unerfreulicher Tag zu werden. Grotti hatte sich unter seinen Stein zurückgezogen, aus Möazedes Küche drangen dichte Rauchschwaden und Würmi zog ihren Vortrag gnadenlos durch. MIROSLAV, KOMM ZURÜCK!!!!

Erkenntnis Nr. 11: Ich habe mich in eine unmögliche Lage gebracht

Meine Comicfiguren sind – nach einem kleinen Aufenthalt in der Abschiebehaft – wieder zurück. Nur Dr-Maus, der natürlich das erforderliche Visum für Hollawuut hat, kommt später (per 1. Klasse-Flug) „nach Abschluss seiner Geschäfte“. Meine Lieblinge sind nicht besonders gut gelaunt. Entsprechend aggressiv sind ihre Fragen: „Kommst Du endlich mit dem neuen Programm klar?“ „Wie viele neue Comics hast Du gezeichnet?“

Anne: Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Und Ihr habt mir auch gefehlt … wie Magenkrämpfe und Hautausschlag. Und ja, die Arbeit mit dem Programm macht Fortschritte. Und nein, ich habe keine neuen Comics gezeichnet.

Mini-Miro taucht hinter mir auf und sieht etwas fragend auf meine ziemlich abgerissen aussehenden Comicfiguren.

Mini-Miro: Tante Anne, wer sind diese streng riechenden Gestalten?

Anne: Das sind die vorübergehend verschwundenen Comicfiguren, von denen ich Dir erzählt habe.

Meine Figuren haben nun auch Mini-Miro wahrgenommen. Lippen werden schmal, Blicke eisig. Der einzige Kommentar: „Aha, wir sehen schon!“ Da sind sie wieder: Eifersucht und Konkurrenzdenken. Ich seufze tief und genervt. Plötzlich wird mir bewusst, dass EINER fehlt. Auf meine Nachfrage nach Miroslav ernte ich nur Schulterzucken und abfällige Handbewegungen. Dann zieht die Truppe schmollend von dannen.

Mini-Miro zupft an meiner Hose und flüstert mir zu: Onkel Miroslav sitzt im Knast auf dem Planet Klebeband!

Anne: Woher weißt Du das?

Mini-Miro: Ich bin zwar ein Hybrid, kann aber trotzdem virtuell zum Planet Klebeband reisen. Da gibt es 'nen Shuttlebus.

Anne: Was ist passiert? Wie lange muss er einsitzen? Was kann ich tun?

Mini-Miro: Puh, das sind aber viele Fragen. Ganz genau weiß ich's nicht, bin ja noch ein Kind. Ich weiß nur, dass er zu 100 Jahren Knast verdonnert wurde.

100 Jahre! Ich würde Miroslav nie wieder sehen oder sprechen können. Mein Herz wird ganz schwer. Ich ringe um Fassung und kämpfe gegen die Tränen.

Mini-Miro: Ganz ruhig, Tante Anne, 100 Klebebandjahre sind 4 Monate in Deiner Zeitrechnung.

Anne: Mini-Miro, jage mir bitte nie wieder so einen Schrecken ein!

Mini-Miro: Ja, ist gut, Tante Anne.

Anne: Und nenne mich nicht ständig 'Tante Anne'. Wir sind schließlich nicht miteinander verwandt. Ich bin ja auch nicht mit Miroslav verwandt, obwohl ich ihn gebastelt habe.

Mini-Miro: Aber das ist doch etwas ganz Anderes. Bei Onkel Miroslav hattest Du einen Auftrag, warst eigentlich nur Werkzeug. Für mich hast Du keinen Auftrag. Ich komme also ganz aus Dir.

Anne: Bin ich damit nicht aber Deine Mutter? Oder Dein Vater? Oder Beides? Wie verwirrend ...

Mini-Miro: Du scheinst davon auszugehen, dass es in Dir nur das eine 'Ich' gibt.

Anne: Ja, das will ich doch mal hoffen. Alles Andere wäre …. iiih, nein, oh mein Gott ...

Mini-Miro: Hast Du denn in Deiner Therapie nicht aufgepasst?

Anne: Was denn? Belauschst Du etwa auch meine Therapiestunden?

Mini-Miro: Ich muss nichts belauschen. Ich komme aus Dir. Schon vergessen?

Anne: Du bist ein ganz schön gruseliges Kind.

Mini-Miro: Nicht ablenken! Was hast Du in der Therapie über Dein Innenleben gelernt?

Anne: Dass es in mir mehrere Akteure gibt.

Mini-Miro: Richtig! Und nun bleibt nur noch die Frage, welcher dieser Akteure Mutter und Vater für mich sind. Dein Ganzes und Äußeres ist für mich jedenfalls meine Tante Anne.

Anne: Mag sein, aber bitte nenne mich nicht Tante ...

Mini-Miro: Ja, ist gut … Tante Anne.

Ob 100% Klebeband oder Klebeband-Hybrid; sie müssen immer das letzte Wort haben. Mir wird langsam bewusst, dass ich mich mit diesem Bastelprojekt so richtig in Schwierigkeiten gebracht habe. Wie konnte ich nur in diese Lage geraten?


 

 

Erkenntnis Nr. 12: Schon ein Bier kann ein Bier zu viel sein

Ich hänge nach einem anstrengenden Arbeitstag im „Sessel der Untätigkeit“ ab, als ich plötzlich spüre, dass ich nicht mehr allein im Wohnzimmer bin. Ich schaue hoch und sehe … MIROSLAV … alle Untätigkeit, aller Trübsinn und sogar die Müdigkeit lösen sich schlagartig in Luft auf. Ich springe voller Energie und Freude auf und würde Miroslav am liebsten umarmen.

Miroslav! Du bist wieder da!! Ich habe Dich so sehr vermisst. Wie geht es Dir?

Wo ist er? Eine unheimliche Kälte hallt in dieser Frage nach.

Äh, was? Wer? Wie bitte?

WO STECKT DER KERL?

Plötzlich wird mir klar, wen Miroslav meint: Mini-Miro! Alle Energie und Freude verschwinden. Ich fühle mich zurückgewiesen und bin total enttäuscht. Der blöde Sack ist nicht meinetwegen hier. Ich interessiere hier überhaupt nicht. Frustriert lasse ich mich in den „Sessel der Untätigkeit“ fallen und verschränke demonstrativ meine Arme vor der Brust. So starren wir einander eine Weile stumm und mit Zornesfalten im Gesicht an.

Dann wendet sich Miroslav ab und knurrt im Weggehen unfreundlich: Ich werde ihn auch ohne Deine Hilfe finden, Verräterin.

Ich bleibe allein zurück, etwas ratlos und auch hilflos. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich ein sehr grundlegendes Bedürfnis.

Zwei Minuten später sitze ich im Innenhof unter der Trauerweide und leere die erste Flasche Bier. Wer braucht schon virtuelle Freunde, wenn ein echter Kasten Bier im Keller steht? Ich will gerade die zweite Flasche Bier öffnen, als Hubald mich aufgeregt in die virtuelle Welt beordert.

Meine Comicfiguren stehen wild diskutierend um Miroslav herum. Würmi studiert aufmerksam ein Dokument. Als sie mich sieht, wedelt sie mit dem Papier vor meiner Nase herum: So, so, so Dein lieber Miroslav ist also ein rechtskräftig verurteilter Drogenhändler. Hier steht es.

Wieder wedelt sie mit dem Papier vor meinem Gesicht herum. Wie ich das hasse.

Wundert mich eigentlich nicht, denn seine Schöpferin scheint ebenfalls eine Neigung zum Drogenkonsum zu haben.

Ich schaue sie fragend an. Noch bevor ich etwas sagen kann, schnauzt sie mich an: Du hast eine ganz ekelerregende Bierfahne.

Miro liegt regungslos am Boden. Neben ihm entdecke ich eine leere Klebstoffflasche. Sein Klebeband wirkt seltsam bleich und schlaff.

Ist er ..., stammle ich hilflos, ist er etwa …

Besoffen: ja - Tot: nein, lässt mich Würmi ebenso knapp wie gefühllos wissen. Jedenfalls ist jetzt klar, warum Du seit Wochen keinen neuen Comic produziert hast. Von wegen “beruflich stark eingespannt“ oder “Probleme mit dem neuen Zeichenprogramm“. Du bist drogenabhängig, hast Deine Kreativität im Alkohol ertränkt.

Das war meine erste Flasche Bier seit 2 Jahren, protestiere ich.

Ja, ja, klar. Typisches Säufer-Gewäsch. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so hast Du ihn eben selbst geliefert. Kommt Leute, Zeit unsere Lebensläufe für die Bewerbungen zu schönen. Hier haben wir keine Zukunft mehr.

Sie ziehen von dannen. Ich bleibe allein mit dem leblosen Miroslav zurück. Wie könnte ich ihm helfen? Was hilft einer komatösen Klebebandfigur?

Hmmm, plötzlich kommt mir die neue Erkenntnis in den Sinn - einem verurteilten Drogenhändler helfen !?! Der Florence Nightingale-Impuls, der sich kurzzeitig gemeldet hatte, stirbt bei diesem Gedanken einen schnellen Tod. Sollte die miese Ratte doch selbst sehen, wie sie klar kommt. Ich hatte eine wichtigere Aufgabe: Comics produzieren, möglichst viele und die besten, die ich jemals gezeichnet hatte. Ich musste meinen Comicfiguren schnell und nachhaltig beweisen, dass sie bei mir weiterhin gut aufgehoben sind.

Irgendetwas in mir hatte gleichzeitig dieses nagende Gefühl des Versagens. Schließlich hatte ich Miroslav geschaffen und ihm unsere Welt erklärt. Wie konnte er zum Drogenhändler werden? Was hatte ich falsch gemacht?

Und warum zum Teufel hatte ich diese Flasche Bier getrunken? Mir war total übel und mein Kopf schwirrte. Morgen würde ich mich erst recht hundsmiserabel fühlen. Ich hätte mich selbst in den Hintern treten mögen, aber auch das bekam ich nicht hin. Versagen, Versagen, nichts als Versagen.


 

Erkenntnis Nr. 13: Wer lesen kann und gründlich liest, ist klar im Vorteil

Mit einem Seufzer der Zufriedenheit lasse ich mich in meinen Lieblingssessel fallen. Ich habe nun eine ganze Reihe neue Comics produziert und dem Rat der Comicfiguren zur Prüfung vorgelegt. Ich bin sehr zuversichtlich, dass meine Werke auf Zustimmung treffen werden.

Ich will gerade die Augen schließen, um einen kleinen Mittagsschlummer einzulegen, als ich ein Zupfen an meinem Ärmel spüre. Es ist Mini-Miro.

Du musst Dich mit Onkel Miroslav wieder vertragen. Euer Streit macht mich furchtbar traurig. Außerdem möchte ich ihn endlich kennenlernen.

Ich denke, dass Du da ein ganz falsches Bild von dem “lieben Onkel Miroslav“ hast. Er sprach nicht gerade sehr freundlich von Dir. Außerdem glaube ich nicht, dass er der richtige Umgang für einen junges und unschuldiges Klebeband-Hybrid-Kind ist.

Du meinst wohl das Gerücht, dass er ein verurteilter Drogenhändler ist.

Gerücht? GERÜCHT!!! Ich habe das Gerichtsurteil mit eigenen Augen gesehen!

Und hast Du es auch gelesen?

Nun, ich ... na ja, nicht so ganz. Diese juristischen Dokumente sind immer so langatmig. Aber ich habe ganz deutlich die Worte “rechtskräftiges Urteil“ und “Drogenhändler“ in Erinnerung.

Und der Name?

Na Miroslav, was denn sonst?

Schau noch mal genau hin. Und schon hält er mir das ominöse Papier unter die Nase.

Anton Gromockel? Jetzt hat er sich auch noch einen falschen Namen zugelegt. Und dann gleich noch so einen oberlächerlichen.

Und wahrscheinlich hat er sich auch eine zweite Persönlichkeit zugelegt. Lies weiter!

Bla bla, §§ bla bla ... aufgrund der Ermittlungen des Miroslav Spuckowski konnten Beweismittel A und B gesichert werden.

Onkel Miroslav ist kein Drogenhändler - ganz im Gegenteil. Du hast Dich von den Vorurteilen Deiner Comicfiguren anstecken lassen statt eigenständig zu denken. Und besoffen warst Du auch!

Das war nur eine Flasche Bier …

Schon gut, ich weiß ja nur zu gut, dass das Deine erste Flasche Bier seit zwei Jahren war. Aber Strafe muss manchmal einfach sein.

Vielleicht wiederhole ich mich: Du bist ein gruseliges Kind! Erm, weiß Miroslav eigentlich, dass ich ihn für einen Drogenhändler hielt.

Woher soll ich das wissen? Ich bin nur ein Kind.

Mir war alles so peinlich. Wie konnte ich nur glauben, dass Miroslav mit Drogen gehandelt hatte? Was sollte ich sagen, wenn er mich damit konfrontierte ? Oh je. Aber immerhin war er doch im Gefängnis gewesen, zu 100 Jahren Knast verurteilt. Andererseits waren das umgerechnet nur 4 Monate in unserer Zeitrechnung gewesen. Aber wer weiß, wie das klebebändische Rechtswesen tickt. Welches Verbrechen hatte Miroslav also tatsächlich begangen? Aber ich konnte nicht direkt fragen, nicht nach meinem peinlichen Fehler. Oder könnte ich doch? Aber wie?

Mini-Miro räuspert sich: Statt hier unnötig Gehirnschmalz auf fruchtlose Grübelschleifen zu vergeuden, was zugegeben eine Deiner Spezialitäten ist, solltest Du einfach mal mit Onkel Miroslav reden.

Wie jetzt? ICH soll den ersten Schritt machen, nachdem er mich so beleidigt hat.

Wie hat er Dich denn beleidigt?

Na ja, vielleicht nicht so direkt.

Ja, war wohl eher so, dass Du Dich beleidigt fühltest. Also kannst und solltest Du den ersten Schritt machen.

Ja, aber nicht ohne einen durchdachten Plan. Das will alles gut überlegt sein. Also - die einzelnen Schritte und eventuelle Alternativen.

Mini-Miro verdreht die Augen und kommentiert meine Äußerungen mit den Worten: Ach ja, Dein typisches, zwanghaftes Verhalten mit Plan A und Plan B, sowie Plan C bis Z. Hätte das Alphabet noch mehr Buchstaben, würdest Du Dir noch mehr Pläne ausdenken.

Für ein Kind weißt Du ja wahnsinnig viel, versuche ich zu kontern.

Du bist mein Spezialgebiet. Eigentlich bin ich irgendwie Du und Du bist ich.

Hör bitte auf damit. Gut, ich rede mit Miroslav. Aber bitte hör auf mit diesem Gerede. Davon bekomme ich Kopfschmerzen und Hirnsausen.

Mini-Miro klatscht in die Hände und springt mit seinen dünnen Beinen wild durch die Gegend. Er ist wieder im Kind-Modus.

Danke, Tante Anne, vielen Dank!! Dann kann ich jetzt beruhigt in die Verpuppung gehen.

Und natürlich hat er wieder das letzte Wort. Äh, Moment mal, Verpuppung??

 

 

Erkenntnis Nr. 14: Ich wurde befördert – zur Staatsfeindin Nr. 1

Müde und erschöpft hänge ich im Sessel der Untätigkeit ab. Um mich herum Stille: mein Ehemann bei der ungeliebten Nachtschicht, Mini-Miro in der Verpuppung, viele meiner Comicfiguren in den Brackwasserstuben und Miroslav wahrscheinlich noch immer im Klebstoff-Nirvana.
Eigentlich hätte ich jetzt jede Menge Zeit für Gymnastik oder Achtsamkeitsübungen oder kreative Tätigkeit. Aber ich sitze hier nur und versinke in negativen Gedanken. Nicht gut, gar nicht gut. Vielleicht hilft ein kurzer Regenerationsschlaf..

Nicht vor dem Fernseher schlafen! Warum hörst Du nie auf Deine Ärztin und Deine Therapeutin.“

ER ist tatsächlich aus dem Klebstoff-Rausch zurück.

Warum darf ich mich nicht wie 80 % der arbeitenden Bevölkerung benehmen?“

Die Antwort kennst Du selbst sehr gut. Ich will mir jetzt einen länglichen Vortrag ersparen.“

Ach ja, stimmt: ICH interessiere Sie ja nicht mehr, Herr Spuckowski. Hätte ich fast vergessen. Mini-Miro ist nebenan. Aber er wird nicht mit Ihnen reden können.“

Den letzten Satz hat ER gar nicht mehr mitbekommen, ist sofort aus dem Zimmer gestürzt. ER kommt aber nicht sofort zurück. Ich wundere mich ein wenig, aber dann ist die Müdigkeit stärker als die Neugier.

Ich weiß gar nicht, wie lange ich geschlummert habe, als ich unsanft durch einen Schlag auf den Hinterkopf geweckt werde.

War ich vorhin nicht deutlich genug: kein Geschnarche vor der Glotze, die übrigens noch nicht mal eingeschaltet ist.“

Aua! Ist doch meine Sache. Das geht Sie gar nichts an, Herr Spuckowski. Und von Vorbestraften lasse ich mich schon mal gar nicht herumkommandieren.“

Oho, ich sehe schon: jetzt bist Du nicht nur übergeschnappt sondern auch noch eingeschnappt. Komm wieder runter und bleib locker. Natürlich interessiere ich mich immer noch für Dich. Es ist nur so, dass ich ziemlich unter Zeitdruck stehe, einen Bericht über dieses Hybrid-Monster abzuliefern. Äh, hüstel, Bewährungsauflage ... Du verstehst.

Ich verstehe nur, dass ich mal wieder ausgenutzt werden soll. Und außerdem ist das ein unschuldiges Kind und kein Monster.“

Nach den mir vorliegenden Protokollen fiel mehrfach der Ausdruck 'gruseliges Kind'.“

Werde ich etwa schon wieder belauscht und bespitzelt?“

Bespitzelung ist so ein hässliches Wort, sprechen wir doch lieber von freundlicher Begleitung.“

Ob die NSA das auch so verlogen umschreibt. Wie umfänglich ist denn Eure 'freundliche Begleitung'?“

24/7 für die gesamte Weltbevölkerung. Verglichen mit uns ist die NSA eine Sandkastentruppe.“

Wenn Ihr soooooo toll seid, wozu dann diese Überfälle auf arme, alte Frauen wie mich? Und wozu brauchen die Deinen Bericht?“

Da sieht man, dass Du nix von dem Geschäft verstehst. Abhörprotokolle, Fotos und Videos können nicht alle Fragen beantworten. Wir brauchen auch direkten Kontakt und natürlich Eure wahren und reinen Gedanken. Sobald Ihr den Mund aufmacht, kommen eh nur Lügen.“

Wie jetzt? Ihr könnt noch nicht mal meine Gedanken lesen? Gurkentruppe!“

Für uns bist Du übrigens keine 'arme, alte Frau'. Du hast eher den Status 'Staatsfeindin Nr. 1'.“

Nach einem kurzen Moment der Verwirrung wird mir klar, dass Miroslav hier keinen Scherz gemacht hat. Ein unkontrollierbarer Lachanfall katapultiert mich aus dem Sessel. Schließlich liege ich japsend am Boden und kann mich immer noch nicht einkriegen. Staatsfeindin Nr. 1 - ein echter Brüller!

Ja, und das ist auch der Grund für meine Vorstrafe: ich bin nach Hollawut abgehauen und habe Dich unbeaufsichtigt zurückgelassen. Das Ergebnis ist dieser Hybrid, der unsere ganze Zivilisation zerstören könnte.“

Schlagartig bin ich hellwach und ernsthaft. „Wie kann denn so ein kleines Wesen Eure großartige und übermächtige Zivilisation zerstören?“

Das weiß ich leider auch nicht so genau. Für diese Art von Geheimnissen reicht meine Sicherheitsfreigabe nicht. Ich muss aber einfach mehr über diese Kreatur herausfinden.“

Bitte verwende nicht das Wort 'Kreatur' für den kleinen Mini-Miro. Wenn Du ihn kennengelernt hast, wirst Du bestimmt anders über ihn denken und reden.“

Wie konntest Du nur all diese merkwürdigen Substanzen und Materialien für sein Wachstum benutzen. Das ist alles so widernatürlich und krank.“

... sagte das sprechende Klebeband, das virtuell durch meine reale Welt reist. Ich verstehe immer noch nicht, warum Du hier herumschnüffeln musst. Eure seltsame Zivilisation kann garantiert Gedanken lesen und durch feste Wände blicken.“

Na ja, möglicherweise löschen gelegentlich unwürdige Mitarbeiter Teile der Datenbank, wenn sie ihre Urlaubsbilder oder Klebeband-Superhits auf dem Zentralrechner abspeichern.“

Klebebandfiguren und Menschen scheinen mehr Gemeinsamkeiten zu haben, als ich dachte.“

Wie jetzt, DU kannst denken. Halt: nichts sagen: Dein krankes Hirn darf nicht überstrapaziert werden.“

Und einmal mehr hat Herr Spuckowski sich das Recht des letzten Wortes gesichert.

 

 

Erkenntnis Nr. 15: Klebeband-Hybrid-Kinder vertragen Seite 3 nicht besonders gut

Bevor ich zu einem neuen Arbeitstag aufbreche, schaue ich noch einmal bei Miroslav und Mini-Miro vorbei. Miroslav besteht darauf, Tag und Nacht neben Mini-Miro Wache zu halten, falls dieses „Hybrid-Monster“ (O-ton Miroslav) aus seiner Starre erwacht. Um diesen Moment auf keinen Fall zu verpassen, hat er sich mit einem Sicherungsband mit dem Kleinen verbunden. Jegliche Bewegung soll ihm dieses Band sofort übermitteln.

Na dann, viel Erfolg 'Großmeister Miroslav'!“

Viel Glück, Hilfsarbeiterin Anne! Schlaf nicht so viel an Deinem Arbeitsplatz. Vor allen Dingen öffne nicht schon wieder 50 WORD-Dokumente auf einmal, nur weil nur Du ins Lu-lu-Land abgetaucht bist.“

Diese Erinnerung an einen der weniger glorreichen Momente in meinem Arbeitsleben kommentiere ich mit einem missgelaunten „HRMMRMMPFFHH“.

Nach einem mäßig erfolgreichen und immer wieder von Müdigkeitsattacken gezeichneten Tag am Arbeitsplatz hoffe ich auf mehr Frieden und Entspannung in meinen eigenen vier Wänden. Das Lauftraining habe ich gleich mal gestrichen. Mir doch egal, dass meine Gewichtsentwicklung nur noch eine Richtung kennt. Ich halte mich eben an den Hit „The only way is up“.

Auf meinem mühevollen Weg in den 5. Stock wird mir bereits auf Stockwerk 2 klar, dass ich das mit 'Frieden und Entspannung' gepflegt abhaken kann. Aus unserer Wohnung dringt Geschrei und Gepolter. Ich bin nur froh, dass meine Nachbarn virtuellen Aufruhr nicht wahrnehmen können. Ich wünsche mir gerade intensiv, dass ich diese Fähigkeit bitte jetzt gleich und auf der Stelle verliere.

In meiner Wohnung spielt sich folgende Chaos-Szene ab:

Im Zentrum des Sturms sitzt der kleine Mini-Miro und plärrt sich die Seele aus dem Leib. Rechts und links von ihm haben sich Pierre und Miroslav aufgebaut und schreien einander unentwegt an. Pierre wedelt mit einer ziemlich lädierten Zeitung herum, während Miroslav energisch auf sein Notizbuch pocht.

Dann betritt Würmi die Szene, stopft die lädierte Zeitung in das Maul von Schreihals Pierre, schaut Miroslav so finster und bedrohlich an, dass dieser 3 Schritte zurück macht und tröstet dann den weinenden Mini-Miro.

So, Schwester, jetzt habe ich für Dich das Feld bereitet. Nun sieh Du mal zu, dass Du dieses Chaos in geordnete Bahnen lenkst.“

Mir schwirrt der Kopf. Ich kann gerade noch genug Konzentration aufbringen, um die offensichtliche Frage zu stellen: „Was ist denn überhaupt passiert?“

Meine Rekonstruktion der Geschehnisse ist wie folgt: Schnarchnase Miroslavs Überwachungskonstruktion versagte. Mini-Miro erwachte aus seiner Starre, war natürlich hungrig und ging auf Nahrungssuche. Er stolperte über die Zeitung, die Oberschlamper Pierre mal wieder einfach so auf den Bode geworfen hatte. Der Kleine futterte einen Teil von Seite 3, die aus irgendwelchen Gründen wohl besonders schmackhaft war. Pierre bemerkte die Beschädigung seines Schmierenblattes und fing ein furchtbares Gezeter an. Das weckte unsere Schnarchnase, die sich sofort auf das arme Kind stürzte, um es mit allerlei Apparaturen zu untersuchen und dabei unentwegt Fragen zu stellen. Dann gerieten Pierre und Miroslav in einen furchtbaren Streit darüber, wessen bescheuertes Anliegen wichtiger sei. Entweder war Seite 3 doch nicht so bekömmlich oder es lag an der Aufregung, jedenfalls reiherte das Kind Pierre und Miroslav mit Schwung auf Beine und Füße. Dann schrien beide zur Abwechslung Mini-Miro an, der daraufhin natürlich bitterlich weinen musste. So, nun hast Du die ganze unwürdige Geschichte. Ach ja, hier noch meine Rechnung für meine Mediatoren-Arbeit“

Schnell und ohne die Rechnung wirklich zu prüfen (was für ein horrender Betrag!) bezahle ich Würmi.

Pierre gebe ich Geld für eine neue Zeitung und die Reinigung seines vollgereiherten Fells.

Miroslav verspreche ich Unterstützung bei der Abfassung seines Berichts über Mini-Miro.

Und dem kleinen Hybrid-Kind verspreche ich ein 'Outfit' seiner Wahl.

Erschöpft falle ich in meinen Lieblingssessel. „Warum gerate ich eigentlich immer in so einen Schlamassel?“

Na, weil Du ein Mädchen bist!“, lässt mich der Großmeister des letzten Wortes wissen.


 

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© Annelie Riedel