Archiv Briefe

Brief Nr. 1


 

Liebe linke Körperhälfte,

 

in letzter Zeit gab es zwischen uns Unstimmigkeiten. Du hast mich mich in Schwierigkeiten gebracht, kleinere und größere gesundheitliche Probleme, die mich letztendlich zu einer von mir besonders gefürchteten Aktion zwangen: DER ARZTBESUCH

Wenn es denn bei einem geblieben wäre, aber nein, es waren drei und dann auch noch Physio-Termine! Das hat dann das Fass zum Überlaufen gebracht. Ich war einfach nur stinksauer. Ich begann all Deine Defizite aufzuzählen.

  • Links sehe ich schlechter.

  • Probleme mit Hüfte oder Knie habe ich immer nur links.

  • Wenn ich Nacken- oder Schulterschmerz habe, dann links.

  • Beim Joggen kommt dieses merkwürdige “Schulterschmerz-eiskalte Hand-Syndrom“ immer nur links.

  • Wenn bei einer Untersuchung ein Reflex versagt und der Doc mir einen sehr kritischen Blick zuwirft, dann ist es natürlich links!

  • Und klar: die seltsame Infektion lässt mein linkes Ohr “außer Betrieb gehen“.

Die Liste meiner Beschwerden wird von Jahr zu Jahr länger. Eigentlich wollte ich gerade zu wüsten Beschimpfungen ansetzen, aber dann hielt ich inne. Vielleicht sollte ich die ganze Sache mal aus Deiner Perspektive sehen. Und ja, Du hast es wirklich nicht leicht.

Die rechte Hand fordert Dich regelmäßig zu Wettbewerben heraus, die Du nie gewinnen kannst. Die rechte Hand kann nun mal schöner schreiben als Deine Hand. Und dann immer diese Siegestänze der rechten Hand ... so eine rechte Hand ist manchmal auch nur ein Arsch! Dabei interessiert die Handschrift in der digitalen Welt doch sowieso nicht mehr.

Und bei der Eingabe am PC seid Ihr beide gleichberechtigt. Lass Dir von der rechten Hand nicht einreden, sie sei wichtiger, nur weil auf ihrer Seite die ENTER-Taste ist und sie die Maus bedienen darf. Du kannst über die Kombination ALT+TAB schneller zwischen den Programmen wechseln als die rechte Hand mit ihren schnellsten Klicks. Und ich könnte noch viel mehr Beispiele nennen.

Das rechte Bein ist nicht viel besser: bildet sich sonst etwas darauf ein, dass es Sprungbein ist. Aber ohne Deine Mitarbeit, liebe linke Körperhälfte, würde das Sprungbein weder abheben noch landen. Na ja, landen schon, aber wahrscheinlich auf meinem Schnäuzelein (aua!).

Vielleicht sind körperliche Schmerzen auch Deine Art, mich auf meine Probleme und meine Fehler aufmerksam zu machen.

Meldest Du Dich mit Nacken- und Rückenschmerz, dann sitze ich wahrscheinlich zu lange und zu krumm vor dem PC.

Wenn Du mich bei langen Läufen mit Schmerzen in der Schulter und einer eiskalten Hand nervst, dann bedeutet das vielleicht nur, dass ich als Sprinterin nicht auf die Langstrecke gehöre. Und weil ich diese “Mitteilung“ durch allerlei Tricks „umgehe“, zwingst Du mich mit Knieschmerz zum Orthopäden.

Der Ohrschaden links bedeutet wahrscheinlich, dass ich es mit meinem Arbeitseifer mal wieder gnadenlos übertrieben habe. Wenn mich der Arbeitswahn packt, vergesse ich meist, dass ich in meinem Alter dem Körper viel mehr Aufmerksamkeit schenken muss.

Liebe linke Körperhälfte, ich verspreche Besserung. Ich werde die ungeliebte Gymnastik wieder regelmäßig machen, beim Laufen auf Deine Signale achten und meinen Arbeitseifer kritisch beobachten. Kann nie schaden, auch wenn ich Dein Verhalten fehlinterpretiert haben sollte und Du mich in Wirklichkeit doch nur nerven wolltest.

 

Liebe Grüße

 

Anne


 

Brief Nr. 2

 

Liebe „Miteinkäuferinnen und Miteinkäufer“,

 

seit langer Zeit bin ich einer meiner seltsamsten Verhaltensweisen auf der Spur: ich habe eine tiefe Abneigung gegen den Einkauf. Weniger verwunderlich ist das beim Einkauf von Bekleidung. Aber “harmlose“ Sachen wie Lebensmittel und Drogerieartikel? Was nervt mich denn daran?

Es liegt nicht an großen Menschenmassen, denn in öffentlichen Verkehrsmitteln und an vielen Plätzen der Stadt treffe ich auf wesentlich mehr Menschen, meist auch noch auf engstem Raum. Also was ist es? Heute habe ich die Antwort auf dieses verstörende Geheimnis gefunden: es ist das Martyrium der Warteschlange an der Kasse!

Ich habe nichts gegen das Warten, denn das kann ich für so viele Dinge nutzen, z. B. Fußgymnastik oder Achtsamkeitsübungen. Es ist auch eine wunderbare Gelegenheit, Sherlock Holmes zu spielen: dazu studiert man die Einkäufe der Anderen eingehend und zieht daraus Schlussfolgerung. Beispiel: “Junger Mann kauft zwei Packungen Fertiglasagne, zwei Flaschen Rotwein und Vanilleeis. Schlussfolgerung: hat seine neusten Flamme zum Essen eingeladen, kann nicht kochen und hat keine Kohle für ein Restaurant (oder will ohne Umwege zur Sache kommen).“

Leider kann all dies nicht stattfinden, weil Ihr, meine lieben Miteinkäuferinnen und Miteinkäufer, beim Anstehen an der Kasse total durchdreht. Wenn mehr als drei Leute anstehen, erschallt mit hundertprozentiger Sicherheit der Kampfschrei “Könnense nich noch ne Kasse aufmachen?“

Wird diesem Verlangen aus durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht gefolgt (es gibt gar keine weitere Kasse oder keinen Mitarbeiter, um eine vorhandene weitere Kasse zu besetzen), dann baut Ihr Eure innere Anspannung durch folgende Handlungen ab:

1. Einkaufswagen in Kniekehle des Mitmenschen rammen, der unverschämterweise vor Euch steht.

2. Ganz nah aufrücken, damit der Depp vor Euch gefälligst nach vorne aufrückt. Jeder Millimeter zählt.

3. Tiefe Seufzer im Sekundentakt tief in den Nacken der dämlichen Kuh vor Euch. Vielleicht ergreift sie die Flucht?

4. Herum granteln über die Service-Wüste Deutschland, bis auch der letzte Optimist schlechte Laune bekommt.

Und wenn Ihr dann endlich an der Reihe seid, knallt Ihr Euren Einkauf mit aller Kraft auf den Verkaufstresen oder das Band und starrt aus hasserfüllten Augen auf das lahme und inkompetente Verkaufspersonal. Ihr legt Euch so richtig ins Zeug, damit “die mal so richtig Stress haben“.

In solchen Momenten muss ich immer an meinen Arbeitsplatz denken. Da kommt auch oft Stress auf, weil Kunden unzufrieden sind. Und urplötzlich mitten in der Warteschlange bei Feinkost Grotti oder Drogerie Dufte spüre ich genau diesen Stress, bin überzeugt, dass man mich auch für lahm und inkompetent hält. Am liebsten würde ich dann fliehen, wie unsere Vorfahren, wenn der Säbelzahntiger um die Ecke bog. Als Mitglied dieser zivilisierten Welt geht das aber nicht. Also bleibe ich mit schmerzenden Kniekehlen und feuchtem Nacken brav stehen, bis ich an der Reihe bin. Währenddessen kreist nur ein Gedanke durch mein gestresstes Gehirn “nie wieder einkaufen“.

Liebe Miteinkäuferinnen und Miteinkäufer, bitte überdenkt noch einmal Eure Einstellung und Euer Verhalten in der Warteschlange. Wir allen klagen über Stress und sind doch selbst oft die schlimmsten Stressoren. Und denkt auch mal an das nicht gerade fürstlich entlohnte Verkaufspersonal. Warum lasst Ihr Eure Ungeduld und Eure schlechte Laune ausgerechnet an diesen Leuten aus?

Außerdem: ein wenig Wartezeit hat noch keinem geschadet. Spielt doch auch mal Sherlock Holmes oder ein anderes lustiges Warteschlangen-Spiel. Ich hätte da noch ein paar Vorschläge ...


Liebe Grüße

 

Eure Anne

 

(die dämliche Kuh, die vor Euch in der Schlange steht)


 

 

 

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© Annelie Riedel